Zwischen Tradition und Exzess – Kritik am Oktoberfest anhand eines Gemeindeblatts
01.09.2025, Recherche und Text: Annemarie Müller M.A., Marcel Luitjens und Celine Brantl
Das Oktoberfest sorgt immer wieder für heikle Schlagzeilen. Erst im September 2024 betitelte die Südwest Presse: „Hunderte Einsätze für Wiesn-Sanitäter – viele Bieropfer“. Was heute mit Meldungen über Polizeieinsätze und Promillerekorde Aufmerksamkeit erregt, war schon vor einem Jahrhundert Anlass für Diskussionen – sogar in einem kirchlichen Gemeindeblatt.
Bereits 1925 schrieb der Kirchenvorstand Kreppel der Christuskirche München zum Oktoberfest: “Die Zahl der Menschen, die [...] an Leib und Seele zu Grunde gerichtet werden, ist viel größer als die Zahl derer, die [...] Gewinn davon haben.” Doch wieso findet man diese Äußerung überhaupt in einem kirchlichen Gemeindeblatt?
Anders als heute, dienten Gemeindeblätter früher nicht nur der Information über rein kirchliche Themen. Anfangs ähnelten die Gemeindeblätter mehr einer Zeitung: sie beinhalteten neben kirchlichen auch politische Informationen. Außerdem war die Fokussierung auf die Region nur zweitranging, da sogar internationale Nachrichten behandelt wurden.
Das „Evangelische Gemeindeblatt für München” war das erste wöchentlich erscheinende Gemeindeblatt eines Dekanats in Bayern. Es erschien ab 1892, wurde unter der Beteiligung von 23 Geistlichen herausgegeben und musste abonniert werden. Der Zweck des Gemeindeblatts war die Information der Gemeindeglieder über spezifisch evangelische Nachrichten, die sogar die Diaspora in den weiträumigen Gegenden Oberbayerns erreichten.
Bis zum Jahr 1914 kamen im Zuge der kirchlichen Pressearbeit flächendeckend in allen Dekanatsbezirken Gemeindeblätter heraus. Deren Inhalt und Aufbau können wie folgt beschrieben werden: Einer abgedruckten Predigt oder geistlichen Erbauung folgten historische Begebenheiten aus Bayern oder aus dem jeweiligen Dekanatsbezirk. Danach wurden Kurznachrichten aus der Welt, Deutschland, der Landeskirche und dem jeweiligen Dekanat zusammengefasst. Ferner enthielten die Gemeindeblätter Hinweise auf Gottesdienstzeiten und kirchliche Feiern sowie Berichte von begangenen Veranstaltungen kirchlicher Vereine. Vereinzelt finden sich auch Mitteilungen von Taufen, Trauungen und Bestattungen der Gemeindeglieder. Finanziert wurde der Druck durch Werbung von regionalen Geschäften und Abonnement-Beiträge.
Angesichts der breiten thematischen Ausrichtung der Gemeindeblätter erstaunt also nicht, dass sich in der Ausgabe des Evangelischen Gemeindeblatts für München vom 20. September 1925 gleich zwei Artikel über das Oktoberfest finden.
Der erste Artikel behandelt statistische Angaben zu Alkoholkonsum, Kosten und Alkoholismus. Darauf folgt eine durch Fettdruck der Schrift besonders hervorgehobene "Entschließung", also einen gemeinsamen gefassten Beschluss. Diese stammt von Kirchenvorstand Kreppel der evangelischen Christuskirche in München, der sich sämtliche evangelischen Geistlichen Münchens angeschlossen hatten. Dort warnt er vor übermäßigem Alkoholkonsum auf dem Oktoberfest 1925 und berichtet zudem über die schädliche Wirkung von Alkohol.
Generell bewegte die mögliche Ausuferung des Oktoberfests durch übermäßig starkes Trinken von Alkohol viele Geistliche und Laien in Bayern zu dieser Zeit. Dies erkennt man auch an einem von Oberst von Hößlin gestellten Antrag an den Landeskirchenrat, der in der Sitzung vom 21.04.1925 behandelt wurde. Dieser beschloss, dass er “nicht in der Lage sei, gegen einzelne Feste [hier: das Oktoberfest] vorzugehen, da ein solcher Protest wirkungslos verhalle“. Ein gemeinsames Vorgehen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern gegen übermäßigen Alkoholkonsum wurde also nicht beschlossen. Allerdings stellten sich zahlreiche Blaukreuzvereine, die flächendeckend in Bayern tätig und der ELKB angesiedelt waren, diesem Kampf.
Das Beispiel des Artikels zum Oktoberfest zeigt also, dass in den Gemeindeblättern nicht nur auf kirchliche Themen eingegangen wurde, sondern sich auch Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Ereignissen finden. Deshalb handelt es sich um besonders interessante Quellen für Forschende zur Heimatkunde.
Insgesamt umfasst die Sammlung der Gemeindeblätter etwa 1192 verschiedene Provenienzen aus den Dekanaten und Gemeinden Bayerns im Zeitraum von 1892 bis 2004. Bis 2004 wurden die Gemeindeblätter vom LAELKB eingefordert und von den Pfarrämtern separat an das LAELKB geschickt, seit 2005 werden sie gemeinsam mit den Pfarrarchiven übernommen.
Die Gemeindeblätter, Akten des Landeskirchenrats sowie Unterlagen der Blaukreuzvereine können im Lesesaal eingesehen werden.
Das gesamte Gemeindeblatt kann hier eingesehen werden.
Gemeindeblatt für München vom 20. September 1925: LAELKB Bibliothek Z 62 M /34.
Auszug aus der Niederschrift des Landeskirchenrats vom 21. April 1925: LAELKB LKR 0.2.0003 - 14230.
Oktoberfest 2024. Hunderte Einsätze für Wiesn-Sanitäter - viele “Bieropfer”, in: Südwestpresse vom 22.09.2024. Zuletzt aufgerufen am 13.08.2025: https://www.swp.de/panorama/oktoberfest-2024-hunderte-einsaetze-fuer-wiesn-sanitaeter-viele-bieropfer-77538249.html.